Beurteilung von Gehörschadensfällen

 

   

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von intakten und geschädigten Innenohr-Haarzellen bei ca. 8000facher Vergrößerung                           

 (Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)

 

1      Einleitung

 

Für die lärmbedingte Schädigung des Innenohres werden im Allgemeinen zwei unterschiedliche Schädigungsmechanismen angenommen. So unterscheidet die VDI-Richtlinie 2058 Blatt 2 zwischen den chronischen und den akuten Gehörschäden.

 

Bei einem chronischen Gehörschaden handelt es sich um einen Gehörschaden durch eine langjährige Lärmexposition. Wird der Stoffwechsel des Innenohres (Energieversorgung) immer wieder überfordert, so sterben die für das Hören bedeutenden Innenohr-Haarzellen ab.

 

Oberhalb einer bestimmten Grenzbelastung muss man jedoch mit einer direkten strukturellen Schädi­gung der Haarzellen durch mechanische Überbeanspruchung rechnen, d.h. die Haarzellen brechen ab. Ein einziger Knall kann bereits ausreichen, um ein ungeschütztes Ohr (ohne Gehörschutz) bleibend zu schädigen. Man spricht hier von einem traumatischen oder akuten Gehörschaden (Knalltrauma).

 

Bei einer extrem hohen Schalldruckwelle kann das Trommelfell und evtl. das Mittelohr verletzt und ggf. zusätzlich das Innenohr beschädigt werden. In diesem Fall spricht man von einem Explosionstrauma.

 

Zur Anerkennung eines beruflich verursachten Gehörschadens (Lärmschwerhörigkeit oder Unfallschaden) bedarf es zunächst einmal der Prüfung, welcher Lärmbelastung der entsprechende Beschäftigte an seinem Arbeitsplatz ausgesetzt war. Anschließend untersucht ein medizinischer Gutachter, ob es sich um eine Lärmschwerhörigkeit handelt und berechnet ggf. den Grad der Behinderung (berufsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE). Als Hilfe für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit gibt es seit 1974 das Königsteiner Merkblatt, das zwischenzeitlich mehrfach überarbeitet wurde und nun als Königsteiner Empfehlung mit Ausgabedatum (Update) 2020 vorliegt.

 

 

2      Beurteilung von chronischen Gehörschäden

 

2.1   Ermittlung der Lärmexposition

 

Eine chronische Lärmschwerhörigkeit kann sich nur dann entwickeln, wenn eine hohe Lärmbelastung über eine ausreichend lange Zeit vorgelegen hat (Brusis 2006). Durch eine langjährige Lärmexposition kommt es zu einer metabolischen Überforderung der Haarzellen des Innenohrs, so dass diese für das Hören bedeutenden Haarzellen absterben. Nach der VDI-Richtlinie 2058 Blatt 2 besteht die Gefahr des Entstehens von Gehörschäden bei Lärmbelastungen mit Lärmexpositionspegeln ab 85 dB(A). Während bei Lärmexpositionspegeln LEX,8h von 85 dB bis 89 dB Gehörschäden nur bei langdauernder Lärmexposition (viele Jahre) auftreten können, kann bei Lärmexpositionspegeln von 90 dB und mehr die Schädigungsgefahr deutlich zunehmen.

 

Das verdeutlichen die folgenden Beispiele in der VDI 2058 Blatt 2. So können folgende Lärmexpositionen bei ohrgesunden Personen Gehörschäden verursachen:

-    mehr als 40 Jahre bei einem Lärmexpositionspegel von 85 dB(A)

-    mehr als 7 Jahre bei einem Lärmexpositionspegel von 87 dB(A) und

-    mehr als 3 Jahre bei einem Lärmexpositionspegel von 90 dB(A).

 

Nach der Königsteiner Empfehlung sind die Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h im Berufskrankheiten-Verfahren als Ergebnis fachkundiger Ermittlungen (s. Technische Regeln zur LärmVibrationsArbSchV – TRLV „Lärm“) für alle Beschäftigungszeiten des Berufslebens zu ermitteln. Bei Lärmexpositionspegeln von 85 dB(A) und mehr ist jeweils eine zahlenmäßige Angabe des berechneten Pegels erforderlich. Die Angabe „mehr als 85 dB(A)“ ist nicht ausreichend, weil sich damit das Hörschadensrisiko nicht genau einschätzen lässt. Das Tragen von Gehörschutz und die damit verbundene Verringerung der Lärmexposition findet im Berufskrankheiten-Verfahren keine Berücksichtigung.

 

Für die notwendige retrospektiven Ermittlung des Lärmexpositionspegels gibt es grundsätzlich folgende Möglichkeiten:

  • Messung an dem noch existierenden Arbeitsplatz

  • Messung an einem ähnlichen Arbeitsplatz oder Simulation der Lärmbelastungssituation

  • Nutzung von Messdaten des Betriebes

  • Nutzung von Lärmbelastungs-Tabellen, Literatur oder Erfahrungswerten

  • Berechnung auf der Grundlage von Emissionswerten für Maschinen, z.B. Herstellerangaben

Die genauesten Ergebnisse sind zu erwarten, falls der Arbeitsplatz noch existiert und sich die Lärmquellen, deren Aufstellung, die hergestellten Produkte und die Raumakustik nicht geändert haben. Dann lässt sich die Lärmexposition durch entsprechende Messungen ermitteln. Insbesondere für länger zurückliegende Zeiträume ist eine solche Messung in der Regel nicht mehr möglich, weil sich die Arbeitsbedingungen wesentlich geändert haben. Auch gibt es vielfach keine zuverlässigen Aufzeichnungen über die seinerzeit gegebene Arbeitssituation. Deshalb muss man muss man hier auf Erfahrungswerte und vorhandene Datensammlungen zurückgreifen.

 

Die Vorgehensweisen und Strategien zur Ermittlung des Lärmexpositionspegels und die Möglichkeiten zur retrospektiven Ermittlung von Lärmexpositionen werden in dem Taschenbuch „Lärmmessung im Betrieb“ (Maue 2011) ausführlich beschrieben.

 

 

 

2.2   Ermittlung der Effektiven Lärmdosis

 

Zur Beschreibung der Lärmexposition für das gesamte Arbeitsleben und zur Beurteilung des damit verbundenen Hörschadensrisikos ist nach der Königsteiner Empfehlung die „Effektive Lärmdosis (ELD)“ nach Liedtke (Liedtke 2013) in Lärmjahren zu berechnen. Die ELD ersetzt das bis dahin für diese Beurteilung herangezogene Risikomaß nach von Lüpke (Lüpke 1978), welches von manchen Gutachtern verwendet wurde, auch wenn es nie im Königsteiner Merkblatt erwähnt war.

 

             Die Berechnung der Effektive Lärmdosis (ELD) basiert auf den etablierten Dosis-Wirkungs-Beziehungen für langjährige Lärmbelastungen nach ISO 1999 (Januar 1990). Dabei werden für die einzelnen Lärmbelastungsphasen des Arbeitslebens jeweils die Expositionsdauern berechnet, die bei einem angenommenen Lärmexpositionspegel von 90 dB(A) auf der Grundlage der ISO 1999 dieselben Gehörschaden verursachen würden wie die tatsächlich gegebene Lärmbelastung. So lässt sich beispielsweise für eine Lärmexposition LEX,8h mit 85 dB über 40 Jahre nach ISO 1999 derselbe Gehörschaden errechnen, der bei einer Belastung mit 90 dB bereits nach Lärmexposition über 2,9 Jahre verursacht würde. In diesem einfachen Beispiel ergibt sich also ein ELD von 2,9 Jahren. Sollte sich aufgrund extrem hoher Lärmexpositionen einmal ein ELD von mehr als 40 Jahren errechnen, so kann „ELD ˃ 40 Jahre“ angegeben werden, womit ja bereits eine hohe Gefährdung eindeutig belegt wäre. Alternativ kann auf eine Effektive Lärmdosis umgerechnet werden, die sich auf einen Lärmexpositionspegel LEX,8h von 100 dB bezieht. Das ist dann als „ELD100“ anzugeben. Ein ELD (bezogen auf 90 dB) von 40 Jahren entspricht einem ELD100 (bezogen auf 100 dB) von 1,9 Jahren.

 

Die Berechnung der ELD ist in der Regel relativ kompliziert und aufwendig, weil alle Lärmexpositionen für die einzelnen Monate und/oder Jahre der Belastung dabei zu erfassen und chronologisch zu berücksichtigen sind. Die Entwicklung des Gehörschadens in der einzelnen Belastungsphase basiert jeweils auf der bis dahin gegebenen Lärmbelastung (mit Pegeln ab 85 dB). Die ELD in Lärmjahren errechnet sich dann schrittweise über die für die verschiedenen Phasen berechneten äquivalenten Expositionsdauern. Als Hilfe für diese Berechnung stellt das Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) den Unfallversicherungsträgern eine entsprechende Software zur Verfügung.

 

 

 

3    Beurteilung von traumatischen Gehörschäden

 

Wie bereits einleitend erläutert, kann es oberhalb einer bestimmten Grenzbelastung zu einer direkten strukturellen Schädi­gung der Haarzellen durch mechanische Überbeanspruchung kommen, d.h. die Haarzellen brechen ab. Ein einziger Knall kann bereits ausreichen, um ein ungeschütztes Ohr (ohne Gehörschutz) bleibend zu schädigen (VDI 2058 Blatt 2). Man spricht hier von einem traumatischen oder akuten Gehörschaden (Knalltrauma).

 

Bei einer extrem hohen Schalldruckwelle kann das Trommelfell und evtl. das Mittelohr verletzt und ggf. zusätzlich das Innenohr beschädigt werden. In diesem Fall spricht man von einem Explosionstrauma.

 

Die VDI-Richtlinie 2058 Blatt 2 beschreibt die Grenze für die Entstehung von akuten Gehörschäden durch einmalige Geräuschbelastungen durch den maximalen AI-bewertete Schalldruckpegel. Danach kann ein akuter Gehörschaden (akutes Lärmtrauma) bei hohen AI-bewerteten Schalldruckpegeln oberhalb von LAI = 120 dB schon nach Geräuscheinwirkungen über mehrere Minuten entstehen. Bei extrem hohen AI-bewerteten Schalldruckpegeln von mehr als  LAI = 135 dB (z.B. Knalle, Explosionen) reicht schon ein einmaliges kurzes Schallereignis als Ursache für einen Gehörschaden.

Als Ursache für ein Explosionstrauma nennt die VDI 2058 Blatt 2 eine intensive Druckwelle mit einer Dauer von mehr als 3 ms und einem C-bewerteten Spitzenschalldruckpegel von mindestens LCpeak = 150 dB.

 

Nach der Königsteiner Empfehlung sollen zur Beurteilung des Hörschadensrisikos von extrem hohen Schalldruckpegeln (z.B. Knalle oder Explosionen) die C-bewerteten Spitzenschalldruckpegel LCpeak oder die maximalen AI-bewerteten Schalldruckpegel LAI,max – nach Möglichkeit mit den Zeitpunkten ihres Auftretens – angegeben werden. Dabei wird mit Bezug auf eine Literaturauswertung von Liedtke (2010) festgestellt, dass einzelne Schallereignisse mit Spitzen-Schalldruckpegeln LCpeak von mehr als 150 dB im Einzelfall akute Gehörschäden verursachen können.

 

Da der Spitzen-Schalldruckpegel LCpeak nur die absolute Spitze eines Schallimpulses beschreibt und nichts über den Energieinhalt eines Impulses aussagt, wird bei verschiedenen Beurteilungsverfahren für Impulslärm, z.B. im militärischen Bereich, in Verbindung mit dem Spitzen-Schalldruckpegel auch jeweils die Dauer der Einwirkung (Wirkzeit) berücksichtigt (siehe z.B. Maue 1988). Die Erfassung des maximalen AI-bewerteten Pegels LAI,max hat den Vorteil, dass damit sowohl die Höhe als auch die Dauer des Impulses in das Ergebnis eingehen. Bei kurzen Schallimpulsen lässt sich damit näherungsweise der Energieinhalt des Schallsignals beschreiben (Maue 1985). Deshalb ist der maximale AI-bewerteten Pegel LAI,max im Vergleich zum Spitzen-Schalldruckpegel LCpeak der aussagekräftigere Kennwert, wenn es um die Beurteilung der Gefahr einer akuten Gehörschädigung durch einen Lärmimpuls geht. Der Spitzen-Schalldruckpegel LCpeak kann dabei als zusätzliche Information zur genaueren Beschreibung des Schallereignisses von Interesse sein.

 

Der Spitzenschalldruckpegel LCpeak fällt erfahrungsgemäß bei Schallimpulsen um ca. 15 bis 30 dB höher aus als der maximale AI-bewertete Schalldruckpegel (Maue 2009). Die in der VDI 2058 Blatt 2 angegebenen Grenze von LAI,max = 135 dB entspräche somit einem Spitzenschalldruckpegel LCpeak von ca. 150 bis 165 dB. Der in der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung als oberer Auslösewert und als maximal zulässiger Expositionswert angegebene Spitzen-Schalldruckpegel LCpeak von 137 dB liegt also deutlich unterhalb des Pegelbereiches, in dem mit einer unmittelbaren Gehörgefährdung durch ein Einzelereignis zu rechnen ist. Der Spitzen-Schalldruckpegel LCpeak von 137 dB beschreibt die Grenze, die Präventionsmaßnahmen erforderlich macht, ist aber nicht der Grenzwert für ein gehörschädigendes Risiko.

 

In Tabelle 1 sind einige Beispiele mit Messwerten LCpeak und LAI,max für hohe Lärmimpulse zusammengestellt. Zum Vergleich seien hier neben den in Betrieben vorkommenden Impulsgeräuschen auch Beispiele aus dem militärischen Bereich sowie aus dem Privatleben aufgelistet.

 

 

Tabelle 1:  Beispiele für Spitzenschalldruckpegel LpCpeak und maximale AI-bewertete Schalldruckpegel LAImax von Lärmimpulsen  (Messung jeweils am Ohr, sofern nicht abweichend angegeben)

 

 

 

Lärmquelle    

   LCpeak        in dB

  LAImax        in dB

Flaschenabfüllanlage  (1 m Abstand)

120

105

Schlagbohrmaschine  

123

110

Stanze

123

107

Druckluftnagler           

127

104

Richten von Edelstahl-Flachstäben

134

114

Schmiedehammer

144

126

Pistole, Walther OSP (9 mm Munition)

162

133

Gewehr, FN (Munition 7,62x51), in Schießkanal

161

144

Geschütz (106 mm Geschoss, rückstoßfrei)

178

151

Hände klatschen (0,3 m Abstand)

130

110

Autotür fest zuschlagen

135

102

Schlagzeug

131

113

Platzen von Luftballon (1m Abstand)

138

117

 

 

Wie diese Beispiele zeigen, werden die nach der VDI-Richtlinie 2058 Blatt 2 als gehörgefährdend anzunehmenden Lärmexpositionen mit maximalen Impulspegeln von mehr als LAI,max = 135 dB an üblichen industriellen Arbeitsplätzen nicht erreicht. Entsprechend hohe Lärmimpulse können jedoch bei Unfällen vorkommen, z.B. beim Platzen eines LKW-Reifens, beim Auslösen eines Airbags oder bei Explosion einer großen Auto-Batterie. Außerdem werden diese hohen Lärmimpulse vielfach im militärischen Bereich erreicht, z.B. beim Abfeuern von großkalibrigen Waffen.

 

 

Literatur

 

Brusis, T.: Berufliche Lärmschwerhörigkeit; Diagnose, Differentialdiagnose und Begut­achtung. Trauma und Berufskrankheit 1/2006, S 65-72

 

Liedtke, M.: Akute Gehörschäden durch extrem hohe Schalldruckpegel. HNO 58 (2010), S. 106-109

 

Liedtke, M.: Die Effektive Lärmdosis (ELD) – Grundlagen und Verwendung. Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 63 (2013). Nr. 2, S. 66-79

 

Maue, J. H.: Lärmbelastung durch Bolzensetzwerkzeuge – Geräuschemissi­on, Geräuschimmission, Beurteilung der Gehörschädlichkeit. BIA-Report 3/85, Berufs­genossenschaftliches Institut für Arbeitssicherheit – BIA, Sankt Augustin 1985

 

Maue, J. H.: Impulslärm an Arbeitsplätzen – der energieäquivalente Dauerschallpegel als Beurteilungskriterium für das Hörschadensrisiko. BIA-Re­port 3/88, Berufsgenossen­schaftliches Institut für Arbeitssicherheit – BIA, Sankt Augustin 1988

 

Maue, J. H.: 0 Dezibel + 0 Dezibel = 3 Dezibel – Einführung in die Grundbegriffe und die quantitative Erfassung des Lärms. Hrsg: Institut für Arbeitsschutz der DGUV. 9. erweiterte Auflage, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2009

 

Maue, J. H.: Lärmmessung im Betrieb – Anleitung zur normgerechten Ermittlung der Lärmexposition am Arbeitsplatz und der Geräuschemission von Maschinen. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011

 

Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibrationen (Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung – LärmVibrationsArbSchV) vom 6. März 2007, BGBl. I, S. 261, letzte Änderung v. 19. Juli 2010, BGBl. I, S. 964