Nach der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung vom 06. März 2007 muss der Unternehmer im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes prüfen, ob die Beschäftigten Lärm oder Vibrationen ausgesetzt sind oder ausgesetzt sein könnten (§ 3). Dazu kann er sich z. B. auf die Angaben eines Maschinenherstellers, auf eigene Erfahrungen oder auf bestehende Datenbanken stützen. Lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln, ob die in der Verordnung gegebenen Auslösewerte eingehalten werden, muss der Unternehmer die bestehende Lärmexposition durch geeignete Messungen objektiv erfassen.
Zur Durchführung der entsprechenden Messungen verweist die Verordnung auf den Stand der Technik (§ 4) und stellt damit eine Verknüpfung zu den einschlägigen technischen Messnormen her. Als Grundlage für diese Lärmmessungen am Arbeitsplatz wurde die ISO 9612 vollständig überarbeitet und liegt nun in einer Neufassung auch als Europäische Norm DIN EN ISO 9612 vor. Diese Norm beschreibt 3 Messstrategien zur Ermittlung des Lärmexpositionspegels, die jeweils Vor- und Nachteile aufweisen und je nach Arbeitsplatzsituation sinnvoll anzuwenden sind. In diesem Beitrag seien die Messstrategien der Norm vorgestellt und miteinander verglichen.
Weitergehende Erläuterungen zur Ermittlung des Lärmexpositionspegels nach den Technischen Regeln zur Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (TRLV) werden in einem separaten Abschnitt unter Fachinfos beschrieben. Weitere Detailinformationen und Beispiele zur Berechnung des Lärmexpositionspegels finden sich in dem Taschenbuch „Lärmmessung im Betrieb“.
2 Arbeitsanalyse
Die DIN EN ISO 9612 beschreibt eine abgestufte Vorgehensweise zur Bestimmung des Lärmexpositionspegels am Arbeitsplatz. Dabei werden folgende Schritte unterschieden:
Arbeitsanalyse
Auswahl der Messstrategie
Durchführung der Messungen
Ermittlung der Unsicherheit
Darstellung der Ergebnisse.
Die Arbeitsanalyse ist demnach der erste Schritt. Diesem Schritt kommt eine besondere Bedeutung zu, weil davon die Entscheidung abhängt, welche Messstrategie sinnvollerweise anzuwenden ist. Je nach gewählter Messstrategie ergibt sich ggf. ein größerer Aufwand für die Arbeitsanalyse oder für die Durchführung der Messungen, wie in den folgenden Abschnitten erläutert wird.
Da der Tages-Lärmexpositionspegel die Lärmbelastung für den repräsentativen Arbeitstag beschreibt, gilt es im Rahmen der Arbeitsanalyse die entsprechende repräsentative Lärmsituation zu ermitteln. Unter dem repräsentativen Arbeitstag ist dabei die längerfristig typische (durchschnittliche) Arbeits- bzw. Lärmsituation zu verstehen. Falls sich die Lärmsituation von einem Tag zum anderen unterscheidet, bedeutet das eine Mittelung der Lärmexposition über einen längeren Zeitraum, z. B. über mehrere Tage (siehe auch ISO 1999, Abschnitt 4.4.2).
Um den Messaufwand zu reduzieren, lassen sich im Rahmen der Arbeitsanalyse ggf. Gruppen von Beschäftigten mit gleicher Lärmexposition bilden. Das können z. B. Gruppen mit gleichartigen Tätigkeiten oder mit Aufenthalt in einem Bereich mit gleichartiger Lärmexposition sein. Hinweise auf entsprechende Gruppen liefern in der Regel entsprechende Berufsbezeichnungen, Arbeitsbezeichnungen oder Einsatzorte.
Ziel der Arbeitsanalyse ist die Beschreibung des repräsentativen Arbeitstages einschließlich aller ausgeführten Tätigkeiten und der üblichen Pausen. Dabei ist darauf zu achten, dass alle Ereignisse erfasst werden, die zur Lärmbelastung beitragen, also z. B. auch einzelne kurzzeitige Belastungen mit hohen Pegeln oder einzelne Schallimpulse. Die Mittagspause und andere offizielle Arbeitspausen lassen sich in der Regel als lärmfreie Phasen annehmen, da sie keinen nennenswerten Anteil an der Gesamtexposition haben. Deshalb kann man die Messung in diesen Pausen unterbrechen und muss sie bei der Berechnung des Lärmexpositionspegels nicht berücksichtigen.
Falls die Recherche ergibt, dass möglicherweise extrem hohe Spitzenschalldruckpegel LCpeak entsprechend den unteren Auslösewerten von 135 dB(C) oder darüber vorkommen können, ist dies durch entsprechende Messungen abzuklären. Dabei sollte die Belastungssituation mit den höchsten möglichen Schalldruckpegelspitzen betrachtet werden.
Um die typische Lärmsituation am Arbeitsplatz bzw. den repräsentativen Arbeitstag zu ermitteln, empfiehlt die DIN EN ISO 9612, sowohl die Beschäftigten als auch die Vorgesetzten zu Art, Ausmaß und Dauer der einzelnen Tätigkeiten bzw. Belastungsphasen zu befragen. Gegebenenfalls lassen sich vorhandene Arbeitsablaufstudien nutzen oder die Zeiten für einzelne Abschnitte der Arbeitsschicht unmittelbar messen.
Zur Beschreibung des repräsentativen Arbeitstages sollen folgende Inhalte benannt werden:
− |
Arbeitsaufgaben (Inhalt und Dauer) |
− |
Hauptlärmquellen und laute Arbeitsbereiche |
− |
Arbeitsabläufe und alle für
die Lärmbelastung relevanten Ereignisse |
Darüber hinaus sind die Produktionsbedingungen z. B. durch folgende Angaben genauer zu beschreiben:
− |
Bearbeitetes Material |
− |
Werkstückdicke |
− |
Materialmenge |
− |
Maschineneinstellung |
DIN EN ISO 9612 beschreibt drei Strategien zur Messung des Lärmexpositionspegels. Diese Messstrategien sind weitgehend mit der früheren Messpraxis in Deutschland nach der Norm DIN 45645-2 in der Fassung von 1997 in Einklang. Die ISO-Norm stellt die Messstrategien jedoch deutlicher als alternative Verfahren nebeneinander, erläutert ihre Vor- und Nachteile und gibt Empfehlungen für die Anwendung der einzelnen Strategien.
Nach DIN EN ISO 9612 sind folgende Messstrategien zu
unterscheiden:
Die drei Messstrategien der DIN EN ISO 9612 sollen hier kurz beschrieben und miteinander verglichen werden. Die tätigkeitsbezogenen Messungen nach Strategie 1 werden wegen ihrer besonderen Bedeutung für die betriebliche Praxis in einem gesonderten Abschnitt der Fachinfos (Durchführung der Messungen) ausführlich behandelt und anhand von Beispielen erklärt. Bezüglich der Strategien 2 und 3 sei auf die detaillierten Erläuterungen im Taschenbuch „Lärmmessung im Betrieb“ (Maue 2011) verwiesen.
3.1 Tätigkeitsbezogene Messungen
Das in Deutschland wohl am weitesten verbreitete Messverfahren an Arbeitsplätzen beschreibt die DIN EN ISO 9612 als Strategie 1 bzw. tätigkeitsbezogene Messung. Dieses Verfahren ist anwendbar, wenn sich die Arbeitsschicht in mehrere typische Tätigkeiten mit in sich gleichartiger Lärmexposition zerlegen lässt. Bild 1 zeigt als Beispiel den Pegelschrieb für eine Arbeitsschicht mit drei unterschiedlichen Tätigkeiten. Zur Ermittlung des Lärmexpositionspegels ist die Geräuschbelastung für jede einzelne Tätigkeit separat zu erfassen. Aus den äquivalenten Dauerschallpegeln der einzelnen Tätigkeiten lässt sich dann der Lärmexpositionspegel unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitanteile berechnen (siehe Fachinfo zur Durchführung der Messungen).
T Arbeitsschichtdauer
T1 Dauer von Tätigkeit 1
T2 Dauer von Tätigkeit 2
T3 Dauer von Tätigkeit 3
t1 Messdauer innerhalb der Tätigkeit 1
t2 Messdauer innerhalb der Tätigkeit 2
t3 Messdauer innerhalb der Tätigkeit 3
Bild
1: Zerlegung einer Arbeitsschicht in mehrere Tätigkeiten mit in sich
gleichartiger Geräuschsituation
Dieses Verfahren der Strategie 1 hat den wesentlichen Vorteil, dass man in der Regel mit relativ kurzen Messzeiten tm für die einzelne Tätigkeit auskommt. Andererseits ist gegebenenfalls ein hoher Aufwand nötig, um die Arbeitsplatzsituation zu analysieren und die Zeitanteile für die zu berücksichtigenden Tätigkeiten mit ausreichender Sicherheit zu ermitteln.
Das Verfahren lässt sich in der Regel auch dann anwenden, wenn am Tage der Messung Bedingungen vorliegen, die von der repräsentativen Situation abweichen. So lassen sich die Zeitdauern der einzelnen Tätigkeiten z.B. auf der Grundlage der betrieblichen Erfahrungen als längerfristig typische Werte einsetzen. Auch können bestimmte Belastungssituationen durch kurzzeitige Simulationen erfasst und entsprechend berücksichtigt werden.
3.2 Berufsbildbezogene Messungen
Als Strategie 2 bzw. berufsbildbezogene Messungen beschreibt DIN EN ISO 9612 ein Stichprobenverfahren, mit dem sich die Lärmexposition für ein Berufsbild durch zeitlich zufällige Stichprobenmessungen erfassen lässt. Ein Stichprobenverfahren, wie es auch schon in der früheren Fassung der DIN 45645-2 (Ausgabe: Juli 1997) im Anhang B beschrieben wurde, bietet sich vor allem für Berufsbilder mit vielen unterschiedlichen Tätigkeiten oder bei einem unvorhersehbaren Arbeitsablauf an. An solchen Arbeitsplätzen wäre die Ermittlung der einzelnen Tätigkeiten mit ihren Zeitanteilen und die messtechnische Erfassung der jeweiligen Geräuschbelastungen nach der Strategie 1 mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand verbunden. Man kann sich in diesem Fall durch die Anwendung der Strategie 2 (berufsbildbezogene Messung) eine aufwändige Analyse der Arbeitsplatzsituation ersparen, muss jedoch mit höherem Aufwand für die Durchführung der Messungen rechnen.
Die Vor- und Nachteile der Strategien 1 und 2 sind in der Tabelle 1 gegenübergestellt. Dabei wird neben dem Aufwand zur Durchführung der Messungen (Messdauer) und für die Arbeitsanalyse auch die ggf. zu gewinnende Information über den Anteil einer einzelnen Tätigkeit an der gesamten Geräuschexposition der Arbeitsschicht als ein Kriterium aufgeführt. Diese zusätzliche Information liefert nur die Strategie 1, was z.B. als Grundlage für die Entscheidung über Lärmschutzmaßnahmen von Nutzen sein kann. Bekanntlich lässt sich die Lärmexposition an einem Arbeitsplatz nur dann deutlich reduzieren, wenn man bei Tätigkeiten ansetzt, die maßgeblich zur Gesamtbelastung des Beschäftigten beitragen.
Tabelle 1: Vor- und Nachteile der Strategien 1 und 2
Als Strategie 3 bzw. Ganztags-Messungen bezeichnet DIN EN ISO 9612 eine Messmethode, bei der die Lärmexposition durch Langzeitmessungen über mehrere möglichst vollständige Arbeitsschichten zu erfassen ist. Die ausgewählten Arbeitstage sollten repräsentativ für den betrachteten Arbeitsplatz sein. Jede Ganztags-Messung wird als ein Stichproben-Messwert verstanden und wie bei der Strategie 2 ausgewertet. Die Strategie 3 empfiehlt sich vor allem für mobil eingesetzte Beschäftigte mit vielfältigen unterschiedlichen Tätigkeiten. Da man diese Beschäftigten kaum über die gesamte Zeit mit einem Handschallpegelmesser verfolgen kann, erfordert dieses Verfahren in der Regel personengebundene Messungen mit Schalldosimetern.
Obwohl die Strategie 3 in der früheren Fassung der DIN 45645-2 (Juli 1997) nicht so explizit als eigenes Verfahren beschrieben wurde, hat sich dieses Verfahren in ähnlicher Form in der betrieblichen Praxis schon lange bewährt. So wurde diese Messmethodik vom Institut für Arbeitsschutz (IFA) bereits Mitte der 80er-Jahre erfolgreich zur Erfassung der Lärmbelastungen in Bauberufen eingesetzt (Maue 1987).
3.4 Vergleich der drei Messstrategien
Wie in den vorherigen Abschnitten erläutert, weisen die hier beschriebenen Strategien jeweils Vor- und Nachteile auf. Tabelle 2 gibt einen Überblick, in welchen Fällen die jeweiligen Strategien anwendbar (markiert mit „Häkchen“) und wann sie besonders zu empfehlen sind (markiert mit „Sternchen“). Danach bietet sich Strategie 1 − tätigkeitsbezogene Messung − immer dann an, wenn sich die Arbeitsschicht in eine überschaubare Anzahl von Tätigkeiten (Teilzeiten) zerlegen lässt. Wenn dies wegen vielfältiger Tätigkeiten mit unbekannter Dauer nicht möglich ist, kommen die als Strategie 2 beschriebenen berufsbildbezogenen Stichprobenmessungen in Betracht. Bei mobilen Arbeitsplätzen mit einer großen Zahl an Tätigkeiten sind schließlich Ganztags-Messungen entsprechend Strategie 3 zu empfehlen.
Tabelle 2: Anwendungsmöglichkeiten und -empfehlungen für die drei Messstrategien (in Anlehnung an DIN EN ISO 9612)
Arbeits- platz |
Arbeitsaufgabe/Tätigkeit |
Strategie |
||
1 |
2 |
3 |
||
Tätigkeitsbezogene Messungen |
Berufsbildbezogene Messungen |
Ganztags- |
||
fest |
einfach oder einzelne |
ü * |
|
|
komplex oder vielfältig |
ü * |
ü |
ü |
|
mobil |
vorhersehbarer Arbeitsablauf, kleine Zahl an Tätigkeiten |
ü * |
ü |
ü |
vorhersehbarer Arbeitsablauf |
ü |
ü |
ü * |
|
unvorhersehbarer Arbeitsablauf |
|
ü |
ü * |
|
fest o. mobil |
vielfältige Tätigkeiten |
|
ü * |
ü |
keine vorgegebenen Tätigkeiten |
|
ü * |
ü |
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ü − Strategie ist geeignet * − empfohlene Strategie |
Im Einzelfall lassen sich auch verschiedene Strategien kombinieren, z.B. indem man die Lärmbelastung für eine bestimmte Belastungsphase (Tätigkeit) durch Stichprobenmessungen (Strategie 2) erfasst und mit anderen Belastungsphasen (Tätigkeiten) nach der Strategie 1 tätigkeitsbezogen auswertet.